Der Weg ist das Ziel: Nicht die genaue Lösung ist entscheidend, sondern die Gedanken, die der Kandidat sich macht, um auf sie zu kommen
Wie groß ist der polnische Markt für Glasverpackungen in Kilo? Auch wenn die Aufgabenstellungen oft unlösbar scheinen – Case Studies zeigen, ob ein Bewerber als Berater geeignet ist. Wie das funktioniert und warum man vor den oft abenteuerlichen Fällen keine Angst haben muss, erklärt Fabian Billing, Partner bei McKinsey und Autor eines erfolgreichen Ratgebers zu diesem Thema.
Der Fall, den der Bewerber in seinem Auswahlinterview präsentiert bekommt, ist nicht länger als ein Satz: „Ein Hersteller von Glasverpackungen ruft an und will wissen, wie groß der Markt für seine Produkte in Polen ist – in Kilo.“ 20 Minuten hat der Kandidat für die Lösung. Der Interviewer lächelt und wartet.
Jedem, der auch nur eine Minute über diese Aufgabe nachdenkt, wird klar, dass es Stunden brauchen würde, um eine solche Fallstudie, auch Case Study genannt, vollständig zu bearbeiten. Immerhin gibt es zahllose Produktkategorien, die in Glas verpackt werden – fünf kommen dem Kandidaten auf Anhieb in den Sinn: Parfüm, Arzneimittel, Getränke, Konfitüre, Konservengemüse. Was tun? Nach kurzer Überlegung beschließt er, die Aufgabe herunterzubrechen und die Abschätzung des Glasmarkts in Polen auf eine Kategorie zu beschränken – Bierflaschen zum Beispiel.
Sinnvoller Stresstest
Eine Fehlentscheidung? Ganz im Gegenteil. Case Studies werden für die Bewerberauswahl oft bewusst so gewählt, dass sie in der vorgegebenen Zeit nicht komplett zu lösen sind. Beratungen machen diesen Belastungstest, um die reale Arbeitspraxis in ihrer Branche zu simulieren, die oft von hohem Zeit- und Leistungsdruck be-stimmt wird. Über Case Studies finden die Interviewer heraus, wie Kandidaten damit umgehen und ob sie für den Beruf wirklich geeignet sind – Berateralltag in der Nussschale.
Kein Wunder, dass selbst Top-Absolventen Fallstudien mehr fürchten als jede andere Herausforderung im Auswahlprozess. Das Case Study-Interview ist die zentrale Hürde, die beim Sprung in die Beratung überwunden werden muss. Aber auch eine Chance: Mit den Cases gewähren Un-ternehmen Einblick in ihr sonst so diskretes Consulting-Geschäft. Denn meist handelt es sich – von reinen Denksportaufgaben einmal abgesehen – um reale Fälle aus der Klientenarbeit, die für die Bewerberauswahl aufbereitet wurden. Viele Kandidaten erhalten hier erstmals die Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen des Unternehmens zu werfen, bei dem sie sich bewerben.
Was einen erwartet: Typische Fälle
Bestimmte Fallstudientypen setzen Beratungen häufig und gern bei Interviews ein. Der eingangs erwähnte Glasmarkt in Polen zum Beispiel ist ein klassischer Abschätzungsfall, bei dem es weniger auf die einzig richtige Lösung ankommt als vielmehr auf realistische Einschätzungen von Märkten oder Materialien und die schlüssige Ableitung eines Ergebnisses. Mit ein wenig Logik kann man auch herausfinden, wie viele Klavierstimmer es in Deutschland gibt oder wie viele Smarties in einen Smart passen.
Andere typische Case Studies sind die Branchenanalyse, bei der etwa eine Zukunftsstrategie für die Beratungsindustrie entwickelt werden soll, oder die Ermittlung von Kosteneinsparpotenzialen für einen Kosmetikhersteller. Auch Kosten-Nutzen-Betrachtungen kommen häufig zur Anwendung: Ist es für die Immobilienfirma X betriebswirtschaftlich sinnvoll, ihre Verwaltung auf die „elektronische Mieterakte“ umzustellen? Rechnet sich für das Modemagazin Y die Herausgabe mehrerer Heftvarianten mit unterschiedlichen Werbeanzeigen für die jeweiligen Zielgruppen?
Umfassende Aufgaben, wie die Erstellung eines Businessplans oder die Restrukturierung eines Unternehmens, sind wegen ihrer Komplexität ebenfalls beliebte Berater-Cases. Gerade Letztere liegen schon sehr nah am späteren Berufsalltag, da die Kandidaten hier bereits einen regelrechten Projektplan mit Analyse- und Auswertungsphasen aufstellen müssen.
Schweigen ist Silber, Reden ist Gold
Der Bearbeitungsprozess ist für fast alle Fallstudien gleich. Meist führt der Interviewer in den Fall ein und gibt alle Informationen, die zu seiner Lösung notwendig sind. Hier kommt es zunächst darauf an, dass die Aufgabe umfassend verstanden wird – nachfragen ist ausdrücklich erlaubt. Wer sich hier zurückhält, aus Sorge, sich eine Blöße zu geben, läuft Gefahr, die Aufgabe nicht richtig zu erfassen und gar an ihr zu scheitern.
Die Lösungsfindung erfolgt dann im Dialog, das heißt der Bewerber teilt seine Gedanken und Einschätzungen mit dem Interviewer. So kann dieser erkennen, wie der Kandidat bei der Lösung eines Problems vorgeht, welche Überlegungen er anstellt und welche Schlüsse er zieht. Ein häufiger Fehler sind spontane Gedankensprünge anstelle einer schrittweisen Problemlösung: So antwortete einmal ein Kandidat auf die Frage, was er untersuchen würde, um die Absatzchancen eines Uhrenherstellers in den USA auszuloten, mit Hypothesen darüber, welche Chancen das Produkt auf dem US-Markt haben würde.
Klüger ist es, die Problemstellung in Teilprobleme zu zerlegen, relevante Aspekte herauszufiltern, zu bewerten und erst dann mögliche Lösungen aufzuzeigen. Systematisches Vorgehen und sorgfältige Analysen beeindrucken mehr als spontane Resultate. Der Kandidat sollte sich dabei genug Zeit nehmen, seine Gedanken zu ordnen, und auch Stichworte zu Papier bringen. All dies signalisiert dem Interviewer: Vor mir sitzt jemand, der strukturiert denkt und einen Sachverhalt von allen Seiten beleuchtet.
Cases knacken: Der Weg ist das Ziel
Wie in echten Beraterstudien gibt es auch in einer Case Study nicht die eine perfekte Antwort. Vielmehr kommt es auf den Weg an, den ein Kandidat einschlägt, und darauf, wie plausibel er seine Antworten herleitet und darstellt. Um rasch auf sinnvolle Lösungen zu kommen, hilft ein Grundgerüst an Analysekonzepten und -werkzeugen, die jeder Kandidat kennen sollte, bevor er in ein Case Study-Interview geht:
Häufig genutzte Klassiker sind das Five-Forces-Modell zur Analyse von Branchenentwicklungen, die Wertschöpfungskette, die die Aktivitäten eines Unternehmens von der Beschaffung bis zum Verkauf abbildet, oder auch die „4P“ des Marketings: Product, Place, Price, Promotions. Ökonomische Konzepte wie diese liegen vielen Berater-Fallstudien zu Grunde, bei denen Unternehmen und Märkte im Mittelpunkt stehen.
Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Konzepten und Tools, die zu kennen sich allemal lohnt: das Just-in-Time-Prinzip, vertikale Integration, Fixkosten oder auch Cashflow-Analyse zählen dazu. Trotzdem braucht kein Kandidat einen BWL-Abschluss, um eine Fallstudie lösen zu können. Was stattdessen zählt, sind eine schnelle Auffassungsgabe und ein gutes Urteilsvermögen, dazu strukturiertes Denken und einen Blick für Quantifizierungen.
Zur Lösung des Glasmarkt-Falls brauchte der Bewerber neben strukturiertem Denken vor allem gesunden Menschenverstand: Wie viel Flaschenbier wird in Polen pro Jahr getrunken? Was wiegt eine Halbliterflasche? Den Pro-Kopf-Ta-gesverbrauch schätzte er auf durchschnittlich 0,5 Liter, das Flaschengewicht auf 200 Gramm. Außerdem traf er Annahmen zum Flaschenbierkonsum zu Hause und in Kneipen und berechnete die Zahl der Einwegflaschen, die pro Jahr benötigt werden würden. Für die Kalkulationen musste der Kandidat im Wesentlichen Grundrechenarten wie Multiplikation und Prozentrechnung beherrschen. Nach 20 Minuten hatte er ein Resultat: Der jährliche Glasbedarf für die polnische Bierindustrie beträgt 368 Millionen Kilo.
Dem Recruiting-Team kam es am Ende nicht darauf an, ob das Ergebnis aufs Gramm genau stimmte. Überzeugt hatte der Kandidat durch die strukturierte Art, wie er an die Aufgabe herangegangen war, seine Analysefähigkeit und nicht zuletzt durch seine offene Kommunikation des Lösungswegs. Drei Monate später stieg er als Fellow bei der Unternehmensberatung ein.
Autor: Fabian Billing, Partner bei McKinsey