Iris Herrmann: „Die Klienten erwarten heute, dass Beratungsteams gemischt besetzt sind“
Seit zwölf Jahren ist Iris Herrmann bereits Consultant, die letzten beiden davon bei Oliver Wyman. Davor macht sie Karriere in der chemischen Industrie. Diese Expertise bringt sie heute in ihren Job als Partnerin der weltweiten Energy and Natural Resources Practice bei Oliver Wyman ein. Im Interview rekapituliert sie den Wandel im Consulting aus weiblicher Sicht und berichtet, wie und warum sie auf Partnerebene noch einmal den Arbeitgeber wechselte.
Rückblick: Nach sieben Jahren in der chemischen Industrie wagten Sie den Wechsel in die Beratungsbranche. Was motivierte diesen Schritt und gab es ein besonderes Ereignis oder einen Wendepunkt, der Sie dazu bewegte?
Richtig, ich war sieben Jahre lang in der Industrie tätig. Während dieser Zeit wurde mir klar, dass ich mich geschickt um eine traditionelle Linienfunktion herumgemogelt hatte. Ich war immer mit Sonderprojekten und Spezialthemen beschäftigt, schon von Anfang an. Mein Einstieg erfolgte als Trainee, und relativ rasch ging es für mich nach China, wo ich maßgeblich am Aufbau eines Standorts beteiligt war. Nach meiner Rückkehr übernahm ich Aufbau- und Marketingaktivitäten in Russland. Später war ich in der Konzernentwicklung tätig.
Das war alles Projektarbeit und hat mir richtig Spaß gemacht – aber ist auch etwas, was man in einem Konzernumfeld nicht unbedingt auf Dauer machen kann. Das ließ mich überlegen, wo ich diese Art der Arbeit fortsetzen könnte. Praktischerweise wurde ich dann gleichzeitig von einem Headhunter angesprochen und bin schließlich in die Beratung gegangen. Ich war nicht komplett unbeleckt, da ich bereits während meines Studiums Praktika in dieser Richtung absolviert hatte und deshalb eine ungefähre Vorstellung von der Beratungswelt besaß. Ich dachte damals, dass ich das für zwei oder drei Jahre machen würde, um neue Methoden und Industrien kennenzulernen, bevor ich mit neuem Wissen in die Industrie zurückkehren würde. Das ist nun schon mehr als zwölf Jahre her.
Die Projektarbeit hat mir richtig Spaß gemacht – aber man kann das in einem Konzernumfeld nicht unbedingt auf Dauer machen
Was waren Ihre Erwartungen oder Vorstellungen, und inwiefern haben sich diese in der Realität bestätigt oder verändert? Was war anders oder ähnlich, als Sie es sich vorgestellt hatten?
Eine Erwartung, die sich definitiv erfüllt hat und bis heute Bestand hat, ist die Lernkurve. Es tauchen immer wieder neue Themen auf, sei es inhaltlicher Natur oder bei jedem Wechsel zu einem neuen Unternehmen. Die Arbeitsweise ist stets unterschiedlich, abhängig von der Kultur und Dynamik im jeweiligen System. Man lernt ständig dazu. Besonders in der Chemieindustrie, meiner Branche, gibt es immer neue Entwicklungen. Wir sind auch stark von Veränderungen betroffen und treiben diese mit voran. Das Interessante besteht darin, sich neuen Herausforderungen zu stellen und zu überlegen, wie man die nächsten Schritte angehen oder Unternehmen begleiten kann. Genau das hatte ich mir erhofft, und es ist tatsächlich Wirklichkeit geworden. Ebenso betrifft dies das Umfeld. Die Zusammenarbeit mit hochmotivierten Kolleginnen und Kollegen ist sehr eng und intensiv, macht jedoch auch Spaß. Dieses Gesamtpaket hat dazu geführt, dass ich bis heute dabei bin.
Oktober 2021 folgte der Wechsel zu Oliver Wyman. Sie waren zu diesem Zeitpunkt etabliert, bereits Partnerin. Ich gehe davon aus, dass Sie komplett freie Wahl bei der Arbeitgeberwahl hatten. Warum hat Oliver Wyman den Zuschlag bekommen?
Als Berater geht man eine solche Entscheidung sehr strukturiert an. Ich hatte eine Liste von Kriterien erstellt, da mir bestimmte Dinge bei der Wahl eines neuen Arbeitsumfelds wichtig waren. Wenn ich es auf ein paar Schlagworte reduziere: Globale Tätigkeit, unternehmerisch denken, unternehmerische Freiheit zu haben und vor allen Dingen als Team zusammen zu arbeiten, also kollaborativ am Markt unterwegs zu sein und nicht als Einzelkämpfer. Während vieler Gespräche, besonders während der Pandemie, habe ich diese Kriterien abgeklopft und bei Oliver Wyman gefunden. Und ich fühle mich nach wie vor hier sehr wohl.
Wie haben Sie sich damals Ihr Bild von Oliver Wyman zusammengesetzt?
Es gab zahlreiche Gespräche mit verschiedenen Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartnern, nicht nur ein paar, sondern wirklich viele. Ich habe mit Mitgliedern des Führungsteams gesprochen, aus verschiedenen Fachgebieten, die ich spannend finde, und aus der Climate and Sustainability Practice. Ich habe mit Kontakten aus den USA, Asien und dem Nahen Osten geredet. Ich habe vielfältige Perspektiven abgefragt und konkrete Beispiele diskutiert, wie wir mit bestimmten Kundenproblemen umgehen würden. Dies half, das Unternehmen genauer kennenzulernen. Man wechselt nicht leichtfertig auf der Partnerebene, es war sicherlich ein großer Schritt. Und es war ein intensiver Prozess, uns gegenseitig kennenzulernen.
Etwa 90 Prozent der industriellen Produktion und der Endprodukte basieren auf Chemieprodukten – die Chemieindustrie hat somit einen enormen Einfluss
Sie sind nun Partnerin der weltweiten Energy and Natural Resources Practice bei Oliver Wyman. Ihre Expertise liegt in der Chemieindustrie, mit Fokus auf Organisationsveränderung, Kompetenzentwicklung, Nachhaltigkeit, ESG und der Transformation industrieller Wertschöpfungsketten. Bei dem Wort „Chemie” denkt man nicht unbedingt an Nachhaltigkeit. Können Sie uns genauer erläutern, worauf Sie sich konzentrieren, und ein Projektbeispiel nennen?
Die Chemieindustrie wird immer noch mit Giftigkeit, Umweltauswirkungen und Sicherheitsproblemen assoziiert. Und ja, die Branche hat einen maßgeblichen Beitrag zur Nachhaltigkeit zu leisten. Je nach Statistik sind etwa sechs Prozent der globalen Treibhausgasemissionen auf die Chemieindustrie zurückzuführen. Wenn wir die industrielle Produktion betrachten, macht sie etwa 20 Prozent aus. Es gibt also Verbesserungspotenzial in der Branche selbst. Was jedoch faszinierend ist: Ohne die Chemieindustrie ist Nachhaltigkeit in anderen Sektoren kaum möglich. Etwa 90 Prozent der industriellen Produktion und der Endprodukte, wie Zahnbürsten, T-Shirts oder Autos, basieren auf Chemieprodukten. Die Chemieindustrie hat somit einen enormen Einfluss. Wir arbeiten an grüner Chemie, Kreislaufwirtschaft und neuen Produkten, um Nachhaltigkeit in anderen Sektoren zu ermöglichen. So gesehen passen Nachhaltigkeit und Chemie sehr gut zusammen.
Ein konkretes Beispiel ist unsere intensive Auseinandersetzung mit der Plastikkreislaufwirtschaft. Plastikmüll im Meer ist allgegenwärtig, doch das Problem reicht viel weiter. Die Nachfrage nach recyceltem Plastik steigt, und chemisches Recycling ist notwendig, da mechanisches Recycling nicht ausreicht. Die strategische Fragestellung für Unternehmen ist, wie sie sich in diesem Kontext positionieren, Partnerschaften gestalten und einen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft leisten können. Ein Bereich, über den wir intensiv nachdenken.
Ihre Practice agiert global. Wohin hat Oliver Wyman Sie bereits gebracht und spielt Reisen immer noch eine große Rolle?
Tatsächlich bin ich noch immer weltweit unterwegs, physisch und virtuell, wenngleich heutzutage weniger per Flugzeug. Die Industrie agiert international, und die meisten unserer Kunden sind global aufgestellt. In den letzten beiden Jahren war mein Fokus verstärkt auf Europa und Nordamerika gerichtet. Dabei war ich sowohl physisch als auch virtuell präsent. Ein jüngst abgeschlossenes Projekt war beispielsweise in Europa, Asien, China, Indien und den USA angesiedelt.
Könnten Sie uns mehr darüber verraten?
Bei diesem Projekt ging es um die Abspaltung einer Geschäftseinheit eines großen Unternehmens, um ein eigenständiges Unternehmen aufzubauen. Viel Unterwegs sein und Privatleben – wie bekommen Sie das unter einen Hut? Bei mir persönlich funktioniert das recht gut. Jeder muss für sich das passende Gleichgewicht finden. Ich führe eine Fernbeziehung zwischen München und Paris und bin ohnehin ständig unterwegs. Es geht nur darum, von wo aus man startet und wohin man unterwegs ist. Reisen macht mir nach wie vor Spaß. Jedoch ist die Beratungsbranche viel flexibler geworden – das ist einer der wenigen positiven Effekte der Pandemie. Früher galt oft das klassische Modell von Montag bis Donnerstag beim Kunden und freitags im Büro. Das hat sich mittlerweile stark gewandelt. Privates und Berufliches lassen sich besser vereinbaren. Wenn ich unterwegs bin, arbeite ich manchmal einen Tag von meinem Homeoffice aus und verbringe mehr Zeit mit meiner Familie, bevor ich wieder beim Kunden oder im Büro bin.
Beraterinnen und Berater sind nicht mehr nur Ideengeber und Konzeptentwickler, sondern Begleiter und Wegbereiter
Sie haben über zehn Jahre Erfahrung in der Beratungsbranche. Wie hat sich die Branche in dieser Zeit verändert, insbesondere im Hinblick auf Vielfalt und Frauen?
Ich begegne heute mehr Frauen in der Branche, sowohl in der Beratung als auch auf Führungsebene. Früher war ich die einzige Partnerin der Firma im deutschsprachigen Raum, doch das hat sich stark gewandelt. Wir hatten im Februar unser globales Partnermeeting mit über hundert Teilnehmerinnen. Das war schon beeindruckend. Es tut sich etwas.
Auch auf Klientenseite erwartet man inzwischen, dass Beratungsteams gemischt besetzt sind. Die Zeiten, in denen nur Männer im schwarzen Anzug auftauchten, sind vorbei. Diese Veränderungen setzen Druck für weitere Entwicklungen.
Zur Frage wie sich die Beratung verändert hat: Ich glaube, die Fragestellungen werden komplexer. Themen kommen schneller hoch und flauen gegebenenfalls auch wieder ab. Beraterinnen und Berater sind nicht mehr nur Ideengeber und Konzeptentwickler, sondern Begleiter und Wegbereiter. Ich bin auch deshalb in die Beratung gewechselt, weil ich viel Wert auf Umsetzung lege.
Wie steht es um die Weiterentwicklung bei und auch von Oliver Wyman?
Bei Oliver Wyman gibt es formelle Trainings für Beratungskompetenzen, von Excel-Business-Cases bis hin zu Programmieren und Präsentationstechniken. Ein Großteil der Weiterbildung erfolgt jedoch praktisch im Job. Es gibt ein Apprenticeship-Modell, bei dem man von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen lernt, sei es in Industrie- oder Projektmanagementthemen. Auch die Bereiche Change-Management und Stakeholder-Management spielen eine wichtige Rolle. Bei Oliver Wyman hat man außerdem die Möglichkeit, für einen MBA, PhD oder ähnliches eine Auszeit zu nehmen. Auch individuelle Interessen können verfolgt werden. Ich persönlich habe mich beispielsweise für ein Nachhaltigkeitszertifikat am Imperial College eingeschrieben.
Und Oliver Wyman selbst?
Wir bei Oliver Wyman beschäftigen uns stark mit der Zukunft der Beratung, aktuell ist zum Beispiel Künstliche Intelligenz ein Trendthema, mit dem wir uns viel auseinandersetzen. Auch der Umgang mit der Generation Z und deren Anforderungen ist relevant. Beratung hat nun mal einen gewissen Lifestyle. Wie passt das zusammen? Wie kann man junge Talente dafür begeistern und Modelle finden? Wie bleiben wir als Beratung attraktiv? Wir sind immer auch mit der eigenen Transformation beschäftigt.
Iris Herrmann // Oliver Wyman
Iris Herrmann, Jahrgang 1978, hat an der Universität Würzburg Betriebswirtschaft studiert. 2003 fand sie ihren Jobeinstieg zunächst in der chemischen Industrie, bevor sie Anfang 2011 in die Unternehmensberatung wechselte. Seit Herbst 2021 ist sie bei Oliver Wyman und Partnerin der weltweiten Energy and Natural Resources Practice, spezialisiert auf die Chemieindustrie. Privat verbringt sie viel Zeit in den Bergen auf Wanderungen, Hochtouren, Klettersteigen und beim Skifahren. Iris Herrmann lebt in München und Paris.