„Diversity und Inklusion haben bei uns einen sehr hohen Stellenwert“
Julia Ruf ist Spezialistin im Bereich Value Chain Transformation und sorgt für die smarte und digitale Weiterentwicklung von großen, internationalen Einkaufsorganisationen. Die 36-Jährige ist seit 2015 bei KPMG und eine der jüngsten Partnerinnen im Unternehmen. Welche Aufgaben sie aktuell betreut, wie sie ihren Job mit der Berufung Mutter zu sein vereinbart und welchen Rat sie Absolvent:innen geben würde, verrät sie im Interview.
Beschreiben Sie uns doch bitte, wie Ihr Lebensweg und Ihre Zeit bei KPMG bis heute verlaufen ist.
Ich bin in Stuttgart geboren und aufgewachsen und habe dort auch meine Schulzeit mit dem allgemeinbildenden Abitur im Jahr 2006 abgeschlossen. Aufgrund meines Wunsches nach Internationalität habe ich mich für ein Studium an der ESB Business School in Reutlingen entschieden, in dem ich neben einer fundierten betriebswirtschaftlichen Ausbildung in International Business auch erste Praxiserfahrungen in der Industrie und im Consulting sammeln konnte. Mein Studium habe ich dann in den USA mit meinem Master of Business Administration im Jahr 2010 erfolgreich abgeschlossen. Im Anschluss entschied ich mich für den Wiedereinstieg bei Mercedes-Benz Technology im Consulting, bei dem ich bei meinem damaligen fachlichen Mentor meine Passion für das Thema Einkauf- und Supply Chain Management entwickelt habe.
Nach fünf Jahren suchte ich dann eine neue Herausforderung und habe mich – entgegen der landläufigen Meinung, dass Beratung nur ein interessanter Erfahrungsboost für die ersten Jahre der beruflichen Laufbahn ist – für eine Beraterkarriere entschieden. Von Beginn an war für mich das Credo, dass ich in der Beratung bleibe, solange es mir Spaß macht und ich immer wieder Neues dazu lerne. Diese Anforderung hat KPMG in den letzten neun Jahren voll erfüllt und mir neben einem tollen Arbeitsumfeld viel Förderung und Karriereperspektive geboten. Im Jahr 2021 wurde ich dann als eine der jüngsten Partnerinnen bei KPMG bestellt und führe seitdem ein wachsendes Team an Beraterinnen und Beratern.
Die Fragestellungen sind vielschichtig, deshalb habe ich in meinem Team unterschiedliche akademische Profile und Erfahrungshorizonte
Welche Aufgabengebiete verantworten Sie heute?
Heute verantworte ich mit meinem Team die Beratung von Industrieunternehmen in Fragestellungen rund um die Optimierung des Einkaufs und Supply Chain Managements. Ich berate dabei primär Corporates-Unternehmen und große, internationale Mittelständler aus der Automobilindustrie, dem Sektor Industrial Manufacturing oder dem Sektor Consumer Goods. Meine Ansprechpartner hängen dabei von der jeweiligen Unternehmenssituation des Kunden ab und beinhalten typischerweise die Einkaufsleitung oder das C-Level.
Die Aufgabengebiete entwickeln sich dabei stets entlang der aktuellen Herausforderungen unserer Kunden weiter – hier ein paar Beispiele für aktuelle Hot Topics, um die ich mich mit meinem Team kümmere: Welche Veränderungen in der Zulieferbasis müssen durch die Elektrifizierung des Antriebsstrangs, autonomes Fahren und die Digitalisierung von Geschäftsmodellen erfolgen und sind die Lieferanten darauf vorbereitet? Wie können die ESG-Anforderungen durch den Einkauf in der vorgelagerten Lieferkette umgesetzt werden, sodass Menschenrechte und Umweltschutz nicht im Widerspruch zum wirtschaftlichen Erfolg stehen? Wie kann der Fokus auf die Sicherstellung der Versorgungssicherheit und Vermeidung von Lieferengpässen durch einen strategischen Ansatz in Einkauf und Supply Chain Management gefördert werden?
Anhand dieser Beispiele wird schnell klar: Der Einkauf und das Supply Chain Management nimmt als Fachfunktion eine immer wichtigere Rolle zur Beantwortung aktueller Fragen im Unternehmen ein und ist gar die „Spinne im Netz“. Ganz zu schweigen davon, dass der Einkauf in Unternehmen in meinen Fokussektoren zwischen 50 und 75 Prozent der Kosten eines Unternehmens verantwortet. Dadurch, dass die Fragestellungen so vielschichtig sind, habe ich in meinem Team von derzeit rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch unterschiedliche akademische Profile, unter anderem Betriebswirt:innen, Kaufleute, Ingenieur:innen, Wirtschaftsinformatiker:innen und Nachhaltigkeitsexpert:innen, und Erfahrungshorizonte – vom Berufseinsteiger:innen zu Senior Manager:innen mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung.
Welche Themen und Herausforderungen begegnen Ihnen konkret und welchen Input geben Sie und Ihr Team Ihren Kunden?
Lassen Sie mich drei aktuelle Beispiele geben. Zur Zeit berät ein Teil meines Teams beispielsweise ein Konsumgüterunternehmen dabei, eine Einkaufsfunktion neu aufzustellen. Wir identifizieren Einsparpotentiale, wählen ein neues Einkaufssystem aus und erstellen ein neues Organisationdesign. Hier ist demnach viel Analytik in der Erstellung von Ausgabentransparenz, Fachwissen über den Markt und die Leistungen von E-Procurement-Anbietern sowie professionellen Einkaufsstrukturen aber auch Change-Management gefragt.
Ein anderer Teil meines Teams begleitet derzeit die Verlagerung der Fertigung des Tier-1-Lieferanten eines Premium-Automobilherstellers an einen anderen Standort des Lieferanten. Hier ist neben Kenntnissen im Bereich Reifegradmanagement und Fertigungsverfahren vor allem eine starke Projektmanagementkompetenz erforderlich.
Ein weiteres Projekt beschäftigt sich derzeit mit der Umsetzung der ESG-Anforderungen aus dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz bei einem Maschinenbauer. Hier sind meine Mitarbeiter damit betraut zu definieren, welche Änderungen beispielsweise in den Due Diligence-Prüfungen von Lieferanten etabliert werden müssen und welche Systemlösung bestmöglich die erforderlichen Risikoanalysen für Lieferanten sowie zusätzliche Transparenz entlang der vorgelagerten Lieferkette erzeugen kann, damit menschenrechts- und umweltbezogene Risiken minimiert werden. Das sind selbstverständlich nur drei Beispiele aus einem deutlich breiteren Themenfeld, geben aber einen ganz guten Einblick, wie wir klassische Managementberatung mit technologischer Umsetzungskompetenz vereinen.
Wir leben in einer Zeit, die eine ungeheure technologische Dynamik entwickelt. An welchen Stellen ist dies für Sie besonders spürbar?
Ich merke dies jeden Tag an verschiedenen Stellen – hier ein paar Beispiele: In immer kürzeren Zyklen kommen neue Technologie-Start-ups an den Markt, die Lösungen für ESG-Fragestellungen rund um Dekarbonisierung und Lieferkettentransparenz bieten, die ich kennen muss, um auf Augenhöhe mit meinen Kunden zu diskutieren.
Darüber hinaus muss ich die Einsatzmöglichkeiten und die Auswirkung von generativer KI kennen, die seit ChatGPT in aller Munde ist, um die Relevanz für mein Team an Beraterinnen und Beratern in der täglichen Arbeit zu kennen und die neuen erforderlichen Skills neben effektivem Prompting, aber auch, um neue Lösungen zu entwickeln, wie wir diese beispielsweise für Vertragsanalysen einsetzen können. Ein guter Managementberater benötigt deshalb heute auch ein hohes Maß an Neugier und Aufgeschlossenheit für Technologie, sodass Begriffe wie „Blockchain“ oder „Metaverse“ keine Buzzwords bleiben, sondern in Ihrer Beantwortung der Fragestellungen von Unternehmen im Hier und Jetzt als Teil der Lösung Einfluss nehmen.
Ich wurde in meinem ersten Partnerjahr Mutter und habe schnell gemerkt, dass die Anforderungen an das Selbstmanagement nun andere sind
Julia Ruf, Mutter und Partnerin bei KPMG
Sie sind junge Mutter und gleichzeitig auch Partnerin bei KPMG. Dies bedeutet viel Verantwortung für Sie in allen Bereichen. Wann spüren Sie besonders, dass dies ein anspruchsvoller Spagat ist?
Dies ist tatsächlich ein Spagat, den auch ich erst wirklich verstanden habe, seit ich selbst Mutter bin. Ich wurde in meinem ersten Partnerjahr Mutter. Das heißt, ich hatte mir mein Business und Team gerade annähernd aufgebaut, um es dann nach einem halben Jahr wieder abzugeben. Auch wenn ich „nur“ ein halbes Jahr in Elternzeit war, merkt man schnell, dass die Anforderungen an das Selbstmanagement danach andere sind. Terminkalender und Dienstreisen werden deutlich stringenter geplant, man hat plötzlich weniger Zeit für ungeplante Personalgespräche und kämpft mit dem emotionalen Druck, stets allem und jedem gerecht zu werden. Ich persönlich bin deshalb meinem Mann und auch meiner Familie sehr dankbar, dass sie mich darin bestärken und unterstützen, trotzdem meinen Weg zu gehen und auch einen Teil der „mental Load“ abnehmen. In diesem Zusammenhang habe ich auch schon persönlich eine große Lernkurve hinter mir – soll heißen, ich habe gelernt, effektiver zu delegieren und Kolleginnen und Kollegen stärker bestimmte Aufgaben und Verantwortung zu übertragen, wo es für mich derzeit im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht möglich ist.
All diese Themen sind aber übrigens nicht nur für junge Mütter herausfordernd. Auch meine männlichen Kollegen schildern mir häufig die Zwickmühle, in der sie als junge Väter stecken, wenn sie länger in Elternzeit gehen oder eigentlich abends ihr Kind ins Bett bringen möchten, aber parallel Abstimmungstermine kurzfristig erforderlich werden, weil bis „End of Business“ eine Deadline zugesagt wurde. Dies können wir also nur gemeinsam über einen kulturellen Wandel schaffen – in der Beratung und bei den Kundenunternehmen in der Industrie. Ich nehme dabei aber durchaus wahr, dass sich schon viel positiv verändert hat – aber natürlich brauchen wir viel mehr Role Models, sodass es eine Selbstverständlichkeit ist, dass Networking Events auch mal vormittags um 11 Uhr, statt abends um 19 Uhr stattfinden.
Für einen solchen beruflichen Erfolg braucht man auch einen Arbeitgeber, der Top-Karriere in Verbindung mit Familienleben sehr bejaht.
Damit haben Sie absolut recht. KPMG ist sehr committed dazu, mehr Diversität auf allen Ebenen zu erreichen. Hierzu gehört im Consulting nach wie vor, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Karriere und Familienleben kein Widerspruch sind. Neben finanzieller Unterstützung für junge Eltern, die früh in den Beruf zurückkehren, gibt es auch gesonderte Benefits – von Kooperationen mit Kitas bis hin zur Vermittlung von Haushaltshilfen.
Entscheidend ist aus meiner Sicht aber insbesondere die Gestaltung des normalen Arbeitstages. Hier hat die Corona-Pandemie mal einen positiven Effekt gehabt: Unsere Arbeit kann in einem deutlich erhöhten Umfang auch Remote erbracht werden, wodurch die Zahl der Dienstreisen deutlich gesunken ist. Die Tatsache, dass bei mir im Team auch Projektmanager in Teilzeit arbeiten, ist ein Beweis, dass ein gutes Selbst- und Kundenmanagement auch hier ein Schlüssel zum Erfolg ist. Am Ende hängt es stark von der Kultur ab, die ich und meine Kolleginnen und Kollegen jeden Tag als Führungskräfte vorgeben und der Qualität des Teamgefüges – hier bin ich persönlich sehr zufrieden, mit dem was ich erreicht habe.
Mittlerweile ist fast die Hälfte unserer Mitarbeitenden weiblich – damit sich der positive Trend fortsetzt, müssen wir aber mehr tun
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften waren in der Vergangenheit gerade auf der Führungsebene fast ausschließlich maskulin besetzt. Welchen Stellenwert hat (Gender) Diversity bei KPMG?
Diversity und Inklusion haben bei uns einen sehr hohen Stellenwert. Konkret verstehen wir darunter die gegenseitige Wertschätzung, unabhängig von Alter, Behinderung, Religion, sozialer Herkunft, ethnischer oder kultureller Vielfalt, Geschlecht oder sexueller Orientierung und Identität. Also weit mehr als nur die Fragestellung, wie viele Frauen wir in Führungspositionen haben. Die ist wichtig, da gerade die Beratung nach wie vor ein „People Business“ ist. Das heißt, dass unsere Kunden mit herausragenden Persönlichkeiten zusammenarbeiten möchten. Gerade bei sich schnell weiterentwickelnden Themen wie der Digitalisierung oder Umsetzung von ESG-Anforderungen profitieren wir als Firma von Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensläufen. Ich persönlich bin überzeugt: Vielfalt macht uns einzigartig, stark und attraktiv.
Weil Sie explizit danach gefragt haben – natürlich ist auch Gender Diversity eine nach wie vor nicht zu unterschätzende Herausforderung in historisch stark männlich geprägten Berufen. Mittlerweile ist jedoch fast die Hälfte unserer Mitarbeitenden weiblich. Selbstverständlich verfolgen wir strukturelle Maßnahmen, wie Equal Pay und Fair Share. Damit sich der positive Trend fortsetzt, müssen wir aber mehr tun. So fördern wir Frauen gezielt und individuell mit zielgruppenspezifischen Entwicklungsprogrammen in allen Entwicklungsstufen der Karriereleiter und bieten Zugang zu wichtigen Netzwerken. Ich selbst habe aus diesen Förderungsmaßnahmen sehr viel für mich persönlich sowie meine Karriere mitnehmen können. Neben all den formalisierten Programmen ist es aus meiner Sicht aber vor allem auch wichtig, dass wir in der täglichen Zusammenarbeit an unseren „Unconscious Biases“ arbeiten.
Persönlich ist mein Anspruch, dass wir bald an den Punkt kommen, in dem Diversity keine Kampagnen mehr braucht, sondern in unserer ganzen Industrie selbstverständlich Teil der gelebten Realität ist.
Wenn Sie auf Ihre Karriere bis hierhin blicken: Welches sind die Weichenstellungen in Ihrem beruflichen Leben, die Sie als elementar einschätzen?
Eines meiner bisherigen Erfolgsgeheimnisse aus fachlicher Sicht war mit Sicherheit, dass ich ein „T-Shaped“- Kompetenzprofil ausgeprägt habe. Das heißt, dass ich ein sehr breites Allgemeinwissen habe, in meinem Fachgebiet aber zusätzlich mit sehr tiefer Expertise glänzen kann. Hierfür bin ich im Vergleich zu anderen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen manchmal etwas beharrlicher und ausdauernder gewesen, bevor ich einen vorschnellen Wechsel der Position oder des Arbeitgebers in Betracht gezogen habe – auch wenn es mal Rückschläge gab und eine zwischenzeitliche Beförderung mal ein Jahr länger dauerte. Darüber hinaus habe ich bei meinen Entscheidungen für einen Arbeitgeber nie den Fokus auf das kurzfristige Gehalt, sondern immer auf die Entwicklungsperspektive und das Umfeld gelegt, sodass ich stets Vorgesetzte und Peers hatte, von denen ich etwas lernen konnte. Ich denke, dass mich meine Ernennung zur Partnerin im Alter von gerade einmal 34 Jahren in meinen bisherigen Weichenstellungen bestätigt.
Welcher Tipp resultiert daraus an diejenigen, die heute noch im Studium sind, aber ähnliches erreichen wollen?
Seid hungrig in eurer Ambition, aber bleibt bescheiden und ausdauernd. Sucht euch ein Umfeld, in dem ihr Spaß an eurer Arbeit habt, und in dem ihr von Leuten umgeben seid, von denen ihr etwas lernen könnt und die auch bereit sind ihr Wissen und ihre Erfahrung mit euch zu teilen.